„Und, was möchtest du später mal werden junge Dame?“, fragten mich meine Verwandten jedes Jahr wieder an Weihnachten, sämtlichen Geburtstagen und jedem Sonntagsessen in altehrwürdigen deutschen Gaststätten. Das erste Jahrzehnt meines Lebens waren meine Antworten kreativ und von kindlichen Träumen durchzogen. Meeresbiologin, Astronautin, Tierärztin in Afrika, Zoobesitzerin, Topmodell, Prinzessin und Hunderetterin. „Na, das ist aber nix Gescheits. Wovon willst du denn leben Kind?“ waren die normalen Reaktionen auf meine Träumerein. Ich träumte trotz allem munter weiter. Und dann kam die Schule.
Schon in der Schule beginnt der Kampf um den ersten Platz. Die eins in der Matheprobe oder den lachenden Smiley unter dem abgeschrieben Text für besondere Schönschrift. Ich erinnere mich an das Brett, das neben dem Eingang zu meinem Klassenzimmer hing. Für jeden lachenden Smiley durfte man seine Stecknadel ein Feld weiter Richtung Ziel bewegen. Der, der das Ziel als erstes erreichte, bekam ein Geschenk. Meiner blieb immer ganz hinten.
Schönschrift liegt mir nicht.
Der Erste beim 50m Lauf der Bundesjugendspiele, der später vor der Schule offiziell einen Pokal überreicht bekommt, die Hände vom Direktor schüttelt und in die Kamera lacht. Die Letzten, die sich ein Puzzlespiel mit der Aufschrift „Beim nächsten Mal klappt es besser“ in Plastikverpackung aus einem Korb nehmen dürfen. Am Ende meiner Schullaufbahn hatte ich viele dieser Trostpreise.
Leichtathletik liegt mir nämlich auch nicht.
Ich verweigerte Lernen und Hausaufgaben. Wollte nicht lernen sondern lieber draußen im Dreck spielen. Ich hatte schlechte Noten, kam mit Ach und Krach aufs Gymnasium. Wieder Mathe, diesmal eine Ex. Der Lehrer schreibt den Notenschlüssel an die Tafel. Massig Einsen und Zweier, ein paar dreier, viele Vierer, keine Fünf und eine Sechs. Sofort geht das Getuschel los. Wer hat die schlechte Note? Wer ist der Looser? Ich wurde rot und versank in meinem Stuhl, drehte die Ex, die mit Noten sichtbar nach oben ausgeteilt wurde, hastig um. Trotzdem wusste nach zwei Minuten jeder meiner Klassenkameraden, dass ich die Schlechteste war. Und spätestens ab dieser ersten Sechs antwortete ich auf die Frage „Na, und was willst du mal werden ?“ mit „Architektin, wie mein Papa“. Vorbei mit dem Tagesräumen und den Phantasieberufen: Spätestens mit 10 hatte ich begriffen, dass man Geld verdienen und Karriere machen musste um sich einzugliedern und nicht aufzufallen. Die Eltern machte es vor.
Doch „Sei gut in der Schule und lern brav, dann wird später mal was Gescheites aus dir!“ hat auch etwas Gutes. Wir leben schließlich nicht in einer ständisch verfassten Gesellschaft, wo Einfluss nur dem gebührt dessen Eltern Einfluss hatten. Deshalb: Jeder ist sein eigenes Glückes Schmied! Und das beginnt schon mit dem Notendruck der Grundschule. Das Schüren der Konkurrenz vom Kindesalter an – keine Frage, Konkurrenz belebt das Geschäft, Konkurrenz ist der größte Evolutionsdruck, BlahBlahBlah. Doch haben wir Menschen uns nicht längst mit unseren Gesundheitssystemen, dem „Die Alten und Kranken zuerst“ die natürliche Auslese beseitigt und die Evolution hinter uns gelassen? Warum also immer noch am alten Konkurrenzdenken fest halten? Warum ist der, der reich, erfolgreich und rücksichtslos ist gesellschaftlich anerkannter als der, der harte körperliche und essentiell wichtige Arbeit als Pfleger im Krankenhaus arbeitet? Nacht für Nacht? Warum machen wir wie verrückt Selfies mit Fußballern, Schauspielern und anderen Mitgliedern der High Society? Macht uns das Reichtum anderer Menschen so viel geiler als die Stärke und die Sozialkompetenz von unzähligen schlecht bezahlten Pflegekräften?
Leistung.
Ein Wort, dass auf den 179 Seiten des aktuellen Koalitionsvertrages 109 mal vorkommt. Das Wort Gerechtigkeit wird 12 mal erwähnt. Leistung bedeutet hier: schneller, reicher, höher, stärker. Doch wo bleibt liebevoller, sozialer, empathischer, freundlicher? Wo liegen denn die Werte, was zur Hölle läuft bitte falsch?
Das hier ist nicht als Generalkritik an diesem System gemeint – hier hat immerhin jeder die Chance aufzusteigen, egal wo er her kommt. Und das ist, ohne Frage, ein riesiges Privileg. Doch hat auch jeder die Chance, sich aus dem Leistungsdruck auszugliedern ohne gleich als Hartzer und Assi beschimpft zu werden? Uns mögen alle Wege offen stehen, außer die kleinen Pfade abseits der gesellschaftlichen Vorstellung von Erfolg und Karriere.
Wann hast du fertig studiert, du lässt dir aber viel Zeit, willst du nicht mal arbeiten?
Meine Uni. Ein großes Studio, in dem alle Studenten ihre Arbeitsplätze haben. Hier werden bis tief in die Nacht Modelle gebaut. „Und, was hast du morgen für die Präsentation alles?“, ist oft keine Frage die aus Interesse gestellt wird sondern aus dem Grund, zu wissen wo man sich in der Kette einordnen muss. Eigentlich sollte die Frage heißen: „Hast du mehr oder weniger gemacht als ich?“ Das weiß ich, weil ich mich selbst bei diesen Gedanken ertappe und mich jedes Mal bewusst wieder davon differenzieren muss. Durch das ständige Auseinandersetzen drängt sich der direkte Vergleich auf. Würde jeder für sich selbst in seinem eigenem Krieg kämpfen, wäre das okay. Doch wenn die eigene Leistung nicht langt um zu glänzen ist die automatische Schlussfolgerung, die Sachen der anderen runter zudrücken. Sich selbst auf Kosten anderer besser zu stellen, Professor auf Fehler anderer hinweisen, Leistung anderer schlecht reden. Eine Verhaltensweise, die auf meinem Weg zum Bachelor von Semester zu Semester extremer wird. Doch in einer Gesellschaft, in der Geld verdienen und Karriere zuerst kommt, wundert mich das nicht. Der Staat fördert die Konkurrenz bewusst, denn schließlich sollen später überall schön fleißige gut verdienende steuerzahlende Egozentriker raus kommen, die sich in der Ellenbogengesellschaft auf der Suche nach Bestätigung und mehr Kohle immer weiter nach oben boxen und dabei die Staatskasse klingeln lassen.
Mit dem Buch „Die Erfindung der Leistung“ hat Nina Verheyen mir beigebracht, dass sich die Bedeutung des Wortes im Laufe der Jahrhunderte maßgeblich verändert hat. Leistung war früher Gegenstand sozialer Verpflichtungen. Es ging um das Leisten eines Dienstes, darum Hilfe und Gesellschaft zu leisten. Es galt: Je höher die Leistung, desto höher der Zusammenhalt. Verändert hat sich die Wahrnehmung der Leistung, na wann wohl, im 19 Jahrhundert zur Zeit der Industrialisierung. Der menschliche Körper wurde mit einem Motor verglichen, als Konstruktion gesehen. Physikalische Einheiten übertrugen sich auf den Menschen: Leistung gleich Arbeit pro Zeit. Leistung wurde gemessen und bewertet. Und wie siehts heute aus? Je höher die Leistung, desto höher die bezahlten Steuern. Schön, dass das Geld die Sozialkompetenz abgelöst hat.
Wenn mich heute jemand fragt was ich mal werden will, wenn ich groß bin (witzig, wie man mit 22 immer noch als Kind betrachtet wird), muss ich nicht mehr überlegen.
Ich werde Idealist, Umweltschützer, Demogänger, Baumliebhaber, Zuhörere, Reisender, beste Freundin, Tänzerin und Geschichtenerzähler.
Und ach ja, mein Geld verdiene ich irgendwann mal mit Architektur.